Corona: Wenn Europa ein Selbstgespräch führt und seine eigenen Worte nicht mehr versteht.

Die Corona-Krise ist hausgemacht und zeigt, EU-Europa ist dysfunktional. Nüchtern, und nicht bizarr, wie die NZZ meint, hat es Aleksandar Vucic als Ministerpräsident Serbiens am 15. März in Belgrad im Angesicht der Hilfslieferungen aus China ausgedrückt: “Es gibt keine Solidarität Europas. Es ist ein Märchen auf Papier.” Man wird sich dieses Datum merken müssen, denn es markiert eine Zäsur (nicht nur) am Balkan.

Die späten und dann überbordenden Reaktionen, die der Unterschätzung und Zögerlichkeit zwangsläufig folgen mussten, und der damit verbundene lock-down, der die europäische Ökonomie in den Zusammenbruch führt(-e), wird nun versucht mit polit-wirtschaftlichen Maßnahmen abzuwenden, die noch verherrender für die Gesellschaften Europas sein werden. EU-Europa hat sich selbst verschuldet in eine Alternativlosigkeit manövriert. Das Problem wurde duch die Schaffung eines noch größeren Problems als gelöst deklariert. Loch auf, Loch zu.

Schon spricht man davon, den freien Kapital- und Warenverkehr, nachdem die individuellen Bewegungs- und Meinungsfreiheiten dramatische Einschnitte erfahren haben, einzuschränken. Vorboten sind Rempeleien zwischen den europäischen Staaten, wo da Masken und dort Beatmungsgeräte vorenthalten, abgezweigt oder beschlagnahmt werden und die EU durch Abwesenheit glänzt.

Vater Staat erlebt seine Wiedergeburt. Geister, die man nicht mehr so einfach nach der Coronakrise in die berühmte Büchse wird verschwinden lassen können. Der Bürger hat erlebt, wer tatsächlich zählt. Und der Bürger hat auch gesehen, was er selbst wiegt: mene mene tekel.

Die Verantwortungslosigkeit gerade von jenem Milieu, welches sich als moralisch überlegen erachtet und meint die Zukunft alleine bestimmen zu dürfen aufgrund ihres Alters, hat besonders versagt und ihren Egoismus und Gefallsucht über das Wohl und die Gesundheit aller gestellt. Die Party und eigene Bequemlichkeit waren und sind einfach wichtiger. Solidarität war sehr sehr klein geschrieben. Solidarität, Verantwortung waren und sind rares Gut im Großen wie im Kleinen.

Es ist in Quintessenz ein selbst geschaffener Ausnahmezustand, in welchen sich das EU-Europa – und auch seine Bürger – ohne Not und ohne Plan selber hineinmanövriert hat. Als pars pro toto sei an einen Spahn als Gesundheitsminster erinnert, der noch am 28. Jänner 2020 erklärte, die Gefahr sei gering.

Der große Stab an Experten, Bescheidwisser, Entscheider, Haltungsmenschen, Think Tanks, Universitäten, Geheimdienste und fast alle institutionalisierten Strukturen haben vollständig versagt. Sie haben es einfach nicht kommen gesehen. Dies scheint mir, die wichtigste Lektion zu sein.

Energische, früh gesetzte Maßnahmen, ein Ernst-nehmen vom dem, was da kommt, ein Vorbereitet-sein auf den Notfall, hätten weder einen lock-down noch Billionen schwere wirtschaftliche “Rettungspakete” in Folge notwendig gemacht, aus welchen heraus es kaum einen Weg zurück gibt, ja, man noch gar nicht daran denkt; und vielleicht auch nicht denken möchte.

Ziele für ein besseres Vorwärts sind völlig abwesend und man denkt tatsächlich, man könne nach der Coronakrise einfach so weiter machen und alles bliebe so wie gehabt inklusive der neu erworbenen Macht, die die Exekutive wohl kaum einfach so aus der Hand geben wird. Hingegen, man sollte die Chance in der Krise nutzen, um ein besseres Europa und Staatswesen in Europa zu schaffen. Die Pandemie deckt nicht die anderen Verwerfungen und Krisen zu, sondern zerrt sie in das grelle Licht.

Der Abyss

Diesmal wird es sich für die EU nicht ausgehen und es ist auch fraglich, ob die Staaten in ihrem Gefüge so bleiben, wie sich aktuell darstellen. Die Dynamik, die man schon durch die bloße Dimension der “Rettungspakete” losgetreten hat, reißt die EU und ihre Staaten in den Abgrund. Das Rette-wer-sich-kann hat schon längst angefangen. Die EU, die sonst gerne und nie müde ist, jeden Radius einer Gurke zu bestimmen, ist abwesend.

Ohne Plan und Vision und ohne erkennbare Absicht, die Chance in der Krise zu nutzen, eine moderne Industrie 4.0 samt Digitalisierung und Quantenökonomie aufzubauen, Grundsteine für die globale Führung in Sachen Technik und Innovation zu legen, die energische Re-Industrialisierung Europas zu betreiben und eine neue Form der sozialen Gerechtigkeit (von Gesundheit über Bildung bis Wohnen) zu etablieren, finden sich die EU und ihre Staaten unversehens in der Rolle des Zauberlehrlings, der die Kübel voll mit Wassern nicht mehr stoppen kann, die er heraufbeschworen hat.

Alle rechtstaatlichen und demokratischen Prinzipien sind gerissen, die Exekutive regiert durch, der Bürger ist vollends aus dem Blick geraten. Europa führt ein Selbstgespräch am Rande des Abyss, hört die Worte, jedoch ohne sie zu verstehen …und der Abyss blickt zurück.

Man kann es sich nicht vorstellen, doch die Warnungen kommen immer rascher und klarer aus Wien, aus Belgrad, aus London und und und … man konnte sich dereinst nicht vorstellen, dass die Mauer in Berlin fällt, die Sowjetunion zerfällt – und doch geschah es.

Es war schon länger was faul im Staate Dänemark und Corona ist nun der Brandbeschleuniger, optimistisch gewendet, der Katalysator. Die EU hat ihr Versprechen nicht eingelöst, was für mehr und mehr Bürger immer offensichtlicher ist und in der Krise steht die EU als Kaiser ohne Kleider da. Die EU und ihre Staaten sind nackt; manche haben noch ein Hemd oder eine Hose an. Doch die Decke bleibt zu kurz, egal wie sehr sie daran zerren.

Eine Vision für einen Neuanfang ist nicht auszumachen, das politsche Establishment erschöpft sich im Reagieren mit zunehmend untauglichen Mitteln, die durch die Bürokratien Europas völlig zunichte gemacht und konterkariert werden.

Sie sind auch das Hauptproblem des EU-Europa. Die Billionen finden nicht den Weg. Die Bürokratie wehrte jegliche Modernisierung ab und ist heute ein konterproduktiver Monolith, der das Geschehen aus seiner Eigendyanmik und Gewicht heraus diktiert, denn sie sitzt heute auch in allen Parlamenten. Die lebensnotwendige Gewaltentrennung für Innovation und mehr findet nur am Papier statt.

In dieser Führungs- und Orientierungslosigkeit werden andere Kräfte des Vakuums sich bemächtigen und es ausfüllen. China, Türkei – als Platzhalter für den Islamfaschismus (oder politischen Islam aka Islamismus aka Islam) – Russland und USA stehen als äußere Kräfte schon unübersehbar bereit.

Longue Durée

Es gibt auch innere Kräfte, die ich auf die longue durée aufsetzen möchte und im besten Falle eine Re-vitalisierung des Nationalismus (im Sinne eines Yuval N. Harari wie in seinem Meisterwerk The Virtue of Nationalism ausgeführt) bringen und von daher eine völlig andere, neue, alte politsche Architektur vorstellbar wird.

Diesen besten Falle will ich annehmen, wiewohl der andere nach wie vor am Tisch liegt, denn ja, es kann auch eine Gesellschaft kollabieren, versinken und einfach verschwinden. Die Geschichte kennt mehr versunkene Reiche, Staaten und Gemeinwesen als über die Jahrtausende überlebende. Diese kann man an einer Hand abzählen und von diesen sollte man auch lernen.

Ob der eine angenommene beste Falle, andere sind freilich auch denkbar, wünschenswert oder nicht, ist ein anderes Kapitel und ein anderes Thema. Es ist denkbar und im Sinne des 10.ten Mannes formuliert.

Harari hat dies in einem jüngsten Meinungsartikel zur Coronakrise in der Financial Times ausgeführt, wo die Achsen liegen und dessen Befund und zutreffenden Beobachtungen ich hier mal voraussetzen möchte: “In dieser Zeit der Krise stehen wir vor zwei besonders wichtigen Entscheidungen. Die erste ist zwischen totalitärer Überwachung und der Stärkung der Bürger. Die zweite ist zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität.” (eigene Übersetzung; Anm.).

Und er wünscht sich, ja hofft: “In den kommenden Tagen sollte sich jeder von uns dafür entscheiden, wissenschaftlichen Daten und Gesundheitsexperten gegenüber unbegründeten Verschwörungstheorien und eigennützigen Politikern zu vertrauen.” Doch die Karten sind da höchst ungleich verteilt und gezinkt.

Die Gnade bewegt sich auf der Schneide des Messers

Was ist denkbar auf Grundlage der inneren Kräfte im Vektor der Globalisierung und konkurrierender Mächte? Die EU kann Geschichte werden, sehr rasch, sie kann ebenso rasch implodieren wie einst die DDR oder die Sowjetunion. Vielleicht bleibt eine EG über.

Niemand wird für die EU heiß und im Wortsinn kämpfen, es gibt keine bürgerliche breite Loyalität für die EU, die Menschen motivieren würde, für sie auf die Barrikaden zu steigen. Das ist ihre größte Schwäche.

Sie hat keine demokratische Basis wie sie Staaten in Europa für sich in Anspruch nehmen dürfen und sie hat auch kaum eine Geschichte verglichen mit den rund 3.000-jährigen Geschichten Europas, die nicht nur eine Geschichte der Kriege, sondern auch der Wissenschaft war.

Großbritannien hat den Auftakt gemacht, einen Schuß, den die EU und Deutschland bis heute nicht verstanden haben und trotzig in ihren Winkeln verharren. Sie vergessen, Großbritannien hat den Freihandel erfunden, es kann unabhängig existieren.

Deutschland ist ein höchst fragiles, gefährliches Machtzentrum voll der zentrifugalen Kräfte und mit einem Nationalismus, der zu Recht gründlich desavouiert und vergiftet ist. Für Deutschland sind Heinrich Heines Worte mutatis mutandis im Rahmen einer Dialektik gültig.

Man sieht schon die Risse jenseits des Weißwurst-Äquators. Es ist vorstellbar, dass Bayern die Souveränität ausruft, der Hansebund wieder auflebt und Württemberg und Sachsen sich verabschieden, um nur einige mögliche Beispiele zu nennen. Da sind viele Szenarien denkbar, aber kaum welche mit einer deutschen Einheit wie wir sie heute kennen. Vielleicht kommt ein Staatenbund heraus. Italien hat ähnliche Bruchlinien und ein bunter Teppich wie einst beispielsweise in der Renaissance ist vorstellbar.

Die alten Wege von K&K sind nach wie vor intakt, ja haben sich vertieft und vergrößert sehr zum Mißfallen von Berlin und Paris. Die Achse Prag – Wien – Budapest ist ergänzt um Warschau und Belgrad. Da kann ein jahrhundertalter Wirtschafts- und Kulturraum unter neuen politschen Prämissen sich rasch neu etablieren, der vor allem den Balkan versteht und einbindet, sich nicht mehr in Feindschaft zu Israel sieht, wie de facto heute Deutschland, und weiß wo die Türkei liegt. Ob das gut geht, wird stark von den demokratischen Verfaßtheiten der jeweiligen Staaten abhängen, wo ja einige Anlaß zum Pessimismus geben.

Europa kann wieder kleinteilig werden, die Bruchlinien sind da, ob es so optimistisch ausgehen wird wie Harari für die gesamte Welt hofft, bleibt dahingestellt. Es ist auch gut möglich, dass Europa für viele Jahrhunderte Spielball wird; sein eigener und der anderer Mächte: “Werden wir den Weg der Uneinigkeit gehen oder den Weg der globalen Solidarität einschlagen? Wenn wir den Weg der Uneinigkeit wählen, wird dies nicht nur die Krise verlängern, sondern wahrscheinlich in Zukunft noch schlimmere Katastrophen verursachen. Wenn wir uns für globale Solidarität entscheiden, wird dies nicht nur ein Sieg gegen das Coronavirus sein, sondern gegen alle zukünftigen Epidemien und Krisen, die die Menschheit im 21. Jahrhundert erleben wird.

Dafür muss aber der Bürger Europas sich in seine Rechte als Hausherr und Souverän setzen, ohne sein jahrtausendaltes Hassbild, dem Judentum, und im Geiste der Aufklärung und Wissenschaft.